Die Geburt einer Frau ist die Stunde ihrer größten Würde! – Tatsächlich???

Die Stunde der grössten Würde?

von Peggy Borchert

„Die Geburt einer Frau ist die Stunde ihrer größten Würde.“
Dieser Satz aus einer Sammlung von Statements der Teilnehmerinnen des Hausgeburtstags 2006 erscheint mir so bedeutungsvoll, daß ich ihn unbedingt aufgreifen muss. Er schwingt immer mit, wenn ich bei Dienstbeginn den Kreißsaal betrete und er ist der eigentliche Grund aus dem ich nach der Ausbildung möglichst nie wieder in einen hinein möchte – in einen Raum, den eine Frau als Gast betritt, um ihr Kind zu gebären. Oder, wie es moderner ist, um sich von ihrem Kind entbinden zu lassen. Wenn ich es schaffe, diesen Satz in meinem Berufsleben nie zu vergessen, zu übergehen oder herunter zu spielen, dann werde ich auch nie vergessen, warum ich Hebamme werden will.

Sucht frau im Wörterbuch nach einer Erklärung des Wortes „Würde„, findet sie unter anderem folgende Definition: „Achtung gebietendes, ruhiges, überlegenes Verhalten, Wesen eines Menschen aufgrund seiner starken Persönlichkeit, seiner geistig-seelischen Kraft; …“ Synonyme für Würde sind zum Beispiel: Format, Haltung, Stolz, Unnahbarkeit, Erhabenheit.

Für mich war sofort klar, was mit dem Satz in Bezug auf die Geburt gemeint ist. Doch da mich durch mein früheres Rechtspflege-Studium die Welt der Gesetze nie ganz losgelassen hat, stellt sich mir unweigerlich die Frage: Wenn es so ist, daß die Geburt für eine Frau die Stunde ihrer größten Würde ist, und wenn, was im Grundgesetz unseres Staates verankert ist, die Würde des Menschen unantastbar ist, wie vielen Hebammen müßte ihre Berufserlaubnis entzogen werden, weil sie ein Grundrecht verletzt haben und immer wieder verletzen? Im Prinzip, auf die Spitze getrieben, habe ich mich nicht selbst bereits mehr als einmal strafbar gemacht in den drei Jahren meiner Hebammenausbildung?

Wie groß ist die Verantwortung, die eine Hebamme hat! Nicht nur die Verantwortung für das Leben und die Gesundheit von Mutter und Kind, sondern auch und vor allem hat sie die Pflicht, das erste Grundrecht zu schützen!

Tausend kleine Bilder sehe ich in Gedanken vor mir, wenn ich an das Wort Würde in meiner Ausbildung denke. Fast alle haben mit der Mißachtung der Menschenwürde, der Würde der Frau, zu tun und sie werden mich bis an mein Lebensende in meinem Herzen begleiten. Würde ich sie beschreiben, würde mir unterstellt werden, ich hätte mir Horrorszenarien für eine reißerische Doku-Soap ausgedacht. Aber mit dem was ich erlebt habe könnte ich Seiten füllen, genau wie wahrscheinlich jede andere Hebammenschülerin auch.

Als Hebamme möchte ich die Frau, die sich von mir durch Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett begleiten läßt, da abholen, wo sie steht.

Im Moment steht sie an der Tür eines Kreißsaals, in dem ich ausgebildet werde. Sie muss an der Tür klingeln. Sie muss um Einlaß bitten. Sie kennt mich und die Hebamme nicht und wir kennen sie auch nicht. Sie hat vielleicht Schmerzen, die sie nicht einordnen kann, weil das ihre erste Schwangerschaft ist. Vielleicht sagt sie: &qote;Ich glaube ich habe Wehen…“ Daraufhin wird die Hebamme ihr mitteilen, daß sie schon merken wird, wenn sie wirklich Wehen hat. Sie wird ihr den Mutterpaß und die Chipkarte abnehmen. Dann wird die Frau ans CTG angeschlossen, Vitalwerte gemessen, der Urin gestixt. Nach der vaginalen Untersuchung wird sie, wenn sie Glück hat, nach Hause geschickt um den Geburtsbeginn abzuwarten. Niemand hat Zeit ihr zu erklären, was mit ihr gerade passiert, warum sie Schmerzen hat und was sie bedeuten.

Vielleicht klingelt auch eine Frau, der das Fruchtwasser an den Beinen hinunter läuft. Aus den Medien „weiß“ sie, daß das Kind dann wohl gleich kommen wird. Sie hat Angst, ihrem Kind würde das Wasser jetzt fehlen. Sie ist verwirrt, weil ihr nichts wehtut. Sie kommt vielleicht sogar als „Liegendtransport“ mit der Feuerwehr und ist aufgeregt. Die Hebamme wird ihr die Hose ausziehen und sie nach ein paar Standard-Fragen ans CTG anschließen usw. bis hin zum Vaginalabstrich und zur Blutentnahme. Auch ihr wird wahrscheinlich keine/r richtig zuhören um herauszufinden, was sie jetzt braucht. Niemand wird ihr erklären, welche Untersuchungen aus welchem Grund gemacht werden. Niemand wird ihre Angs

t wahrnehmen und ihr Raum geben.

Damit steht das Thema „Würde“ schon völlig außer Frage, denn die Würde eines Menschen zu achten setzt zunächst einmal voraus, daß der Mensch überhaupt wahrgenommen wird.

Eine Frau, die breitbeinig auf einem Hightech-Untersuchungsstuhl liegt, eine OP-Lampe strahlt in ihr Innerstes. Eine Ärztin oder Hebamme dringt in sie ein, mit verbissenem Gesicht, und verzieht dabei verächtlich die Mundwinkel. „Das ist noch nichts! Die Schülerin untersucht auch nochmal, das ist ein guter Befund zum Lernen.“

Eine Akupunktur-Nadel, die, ohne daß die Gebärende es bemerkt hat oder sie um Erlaubnis gefragt wurde, seit fünfzehn Minuten in dem gedehnten Damm steckt.

Eine Hebamme, die über die schwer atmende Gebärende hinweg den Partner anweist, er solle seiner Frau den Kopf auf die Brust drücken und sie daran erinnern, den Mund geschlossen zu halten.

Ein „Frau Müller“, das plötzlich zu einem „Tu jetzt was ich dir sage!!“ wird.

Eine schreiende Frau. In ihr der Finger der Hebamme, der mit den begleitenden Worten: „Ich muss das jetzt machen, ich will Ihnen nur helfen!“ den Muttermund aufdehnt.

„Spotlight“ auf eine offene Vulva, blutverschmiert, aus der die durchtrennte Nabelschnur hängt, gut sichtbar von der geöffneten Kreißsaaltür aus.

Viele werden sich nicht angesprochen

fühlen von der Masse der Beispiele, aber es sind schon winzige Kleinigkeiten, die meiner Meinung nach die Würde der Frau untergraben. Es sind Blicke, Gesten, Vorurteile, Achtlosigkeiten. Machtdemonstrationen getarnt als Hilfeleistungen. Ich habe keine Angst endlich auszusprechen, was mich wütend macht.

Mich packt die Wut, wenn Hebammen behaupten, Frauen könnten heutzutage nicht mehr gebären. Sie bräuchten klare Anweisungen, um eine Optimierung des Geburtsverlaufs zu erreichen. Es wären „andere Frauen, die ins Krankenhaus kommen“. Es sind nicht andere Frauen, sondern verängstigte Frauen! Gerade sie bräuchten liebevolle Unterstützung und Bestärkung. Gerade sie könnten durch das Erleben einer WIRKLICH selbstbestimmten Geburt das Vertrauen in ihren Körper wieder entdecken und gestärkt aus der Geburtsarbeit herausgehen.

Mich packt die Wut, wenn eine Hebamme vor der Frau (!!) sagt: „Die kann das nicht, da müssen wir nachhelfen, sonst geht es dem Kind irgendwann schlecht.“ Sie kann es schon. Wir lassen sie nur nicht!

Wir haben unsere Schemata im Kopf: wann Geburt beginnt, wie lange sie dauern darf, welche Position in welcher Phase am besten ist, wann und was die Frau essen darf, wie sich am besten zu bewegen und wie am effektivsten zu gebären sei. Wer hat das Recht zu bestimmen, ob die Frau am besten während der Eröffnungswehen Treppen steigt oder sich ins Bett legt und jammert oder ob sie Bauchtanz in der Badewanne veranstaltet? Wer weiß besser als die Frau (wieder: wenn wir sie lassen!!), ob die Austreibungswehen für sie am besten im Stehen, am Seil hängend oder im Bett liegend zu ertragen sind?

Wir achten die Würde der Frau nicht, wir treten sie sogar mit Füßen! Wer sagt, daß die Würde des Menschen unantastbar sei, weil das ja nun mal eine Grundrecht ist, der hat noch nie erlebt wie leicht sie zerbricht. Grundrechte existieren nicht einfach von Natur aus, sie müssen vor allem geachtet und geschützt, aber leider auch eingefordert werden. Leider ist es nämlich nicht selbstverständlich, daß die Geburt die Stunde der größten Würde der Frau ist. Die Frau befindet sich in einem absoluten Ausnahmezustand. Sie ist überwältigt von der Leistung ihres Körpers. Viele von uns haben noch immer nicht begriffen, was es bedeutet, vom „Cocktail of love hormones“, wie Michel Odent es so schön beschreibt, überschwemmt zu sein. Die Frau ist nur selten in der Lage, um ihre Würde zu kämpfen. Hilflos ist sie im Moment des Gebärens „ihren&qote; Geburtshelfern ausgeliefert. Sie wird IMMER dankbar sein, wenn es dem Kind gut geht, egal wie sehr sie sich von der Hebamme misshandelt fühlte. Sie wird dieser Hebamme umso dankbarer sein, weil sie sie „gerettet“ hat.

„Ohne Sie hätte ich das nie geschafft!“ – wie oft habe ich diesen Satz schon gehört und wie oft konnte ich nichts als traurig-wütend zuhören wie die Hebamme darauf antwortete: „Das habe ich gern getan!“ Zweifellos hat sie das. Sie hat sich unentbehrlich gemacht, ganz egal welche Grenzen sie dafür überschreiten, welche Grundrechte sie dabei verletzen musste. Sie hat die Macht.

„Achtung gebietendes, ruhiges, überlegene

s Verhalten, Wesen eines Menschen aufgrund seiner starken Persönlichkeit, seiner geistig-seelischen Kraft…“ – Würde ich eine Frau mit solchen Worten im Kreißsaal vorstellen, würden (da bin ich absolut sicher) die Reaktionen darauf vom Augenrollen über den Titel „schwierige Frau“ bis hin zu offenen Unmutsbekundungen ausarten.

Format, Haltung, Stolz, Unnahbarkeit, Erhabenheit… das sind die Begriffe, die die Würde eines Menschen laut sachlicher Erklärung definieren. Für mich ist es mehr als das – das einfache Wort: ACHTUNG. Die Definition nach dem Wörterbuch kann ich nicht ausreichend finden. Es geht nicht darum, daß sich eine Frau Achtung verschaffen muss durch ihr Verhalten oder ihr Wesen. Die Achtung muss ihr „einfach so“ entgegen gebracht werden, denn: Art 1 GG:
DIE WÜRDE DES MENSCHEN IST UNANTASTBAR.

[Dieser Artikel erschien zuerst in ‚Hebammeninfo‘, Heft 5/2006, der Verbands- und Fachzeitschrift des Bundes freiberuflicher Hebammen Deutschlands e.V. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.]

Autorin: Peggy Borchert ist Hebamme seit 2006. Sie war während ihrer Hebammen-Ausbildung in Berlin die 1. Vorsitzende des BHSR, den sie in ihrer jetzigen Funktion als Beirätin unterstützt.

 

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